Frank Schubert - Fotografie und Gestaltung aus Frankfurt am Main
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Michael Bockemühl
„Wir können an Michelangelos Werk eine Entwicklung von der perfekten zur offenen Form beobachten. Wir sehen eine vollendete und eine sogenannte unvollendete Figur. Sie treten verschieden auf. Und in dieser Verschiedenheit werden wir beobachten, wie Michelangelo selbst das Verhältnis zum Stein im Laufe seiner unglaublich langen und reichen künstlerischen Laufbahn neu prägt, neu gestaltet, neu entdeckt – auch für unser heutiges Sehen.”
Friedrich Nietzsche zufolge werden wir nicht als Seher:innen geboren. Die Ausbildung des Sehsinns hänge vielmehr gleich von mehreren Faktoren ab. „Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-Lassen angewöhnen. Das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen.“
Sehen bedarf demnach der Ruhe, Geduld und Nähe sowie der Bereitschaft, die Perspektiven zu wechseln und (Vor-)Urteile zurückzuhalten. Ein erfrischendes Beispiel, wie das gelingen kann, finden wir in Michael Bockemühls Vorlesung zu Michelangelo. Er gilt ihm als wohl „wirkmächtigster Künstler der Menschheit“. Der Kunstwissenschaftler, der sich ein Leben lang mit dem florentinischen Bildhauer, Maler, Baumeister und Dichter auseinandergesetzt hat, möchte keine weiteren Interpretationen zu dessen Werken anstellen. Er möchte sich ihnen über die Augen nähern. So heißt es in seiner Vorlesung: „Was ich hier versuche, ist ja auch nur ein Ansatz, eine Bemühung, die auf die Frage abzielt, wie wir so etwas ansehen können – nicht nur, was sich darüber sagen lässt“. Doch was sollte so außergewöhnlich daran sein, zu zeigen, wie die Werke Michelangelos angeschaut werden können?
Bei der Kunstbetrachtung haben wir es mit einem Vorgang zu tun, der mit größten Glücksmomenten, aufregenden neuen Perspektiven und neuen Horizonten, aber auch mit enormen Anstrengungen und existenziellen Herausforderungen verknüpft ist. Die Augen für ein Kunstwerk öffnen sich nur dann, wenn anstelle der interpretationsvermittelten Bedeutung die eigene Seherfahrung in den Mittelpunkt rückt:
Wie ist eine Sache gestaltet?
Wie tritt sie in Erscheinung?
Wie spricht sie mich an?
Wie erschließt sie sich mir?
Dementsprechend sucht der Wahrnehmungsforscher von der Universität Witten/Herdecke in seiner Vorlesung zu Michelangelo mit seinem Publikum ein „anderes Sehverhalten“, eine „Umwendung der Sehgewohnheiten“ einzuüben und es auf „andere Bewusstseinsvollzüge beim Sehen“ aufmerksam zu machen. Dabei lenkt er den Blick nicht nur auf die Kunstwerke, sondern auch auf uns selbst als Betrachtende. Wir erfahren, wie wir an der bleibenden, durch den Stein festgehaltenen Form in eine spezifische Bewegung kommen können, die die so und nicht anders gestalteten Skulpturen vorgeben.
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